Integration Behinderter 

(aus Weser Kurier, v. 10.01.1998)
Behindertenverbände über Urteil entsetzt
Gericht: Unübliche Laute wirken extrem belastend

Karlsruhe. Das Kölner Urteil, das sieben geistig Behinderten wegen Lärmbelästigung des Nachbarn Ruhezeiten verordnet, hat nicht nur Empörung ausgelöst, sondern auch den Ruf nach dem Bundesverfassungsgericht. Tatsächlich sind nur wenige Fälle so geeignet wie dieser, in Karlsruhe überprüft zu werden. Der Sprecher des Landschaftsverbandes Rheinland, der Träger des Behindertenheimes ist, kündigte bereits den Gang nach Karlsruhe an.
Denn seit dem 23. Oktober 1994 steht folgender Satz im Grundgesetz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht erst vor kurzem Gelegenheit, erstmals zu diesem Passus Stellung zu nehmen. Doch der Fall taugte nicht so recht dazu, das Spannungsfeld zwischen Integration und Ausgrenzung von Behinderten verfassungsrechtlich zu beleuchten.
In dem Ende Oktober verkündeten Beschluß war die Frage zu entscheiden, ob behinderte Kinder einen Anspruch auf gemeinsamen Schulunterricht mit nichtbehinderten Schülern haben. Ein solches gerichtlich durchsetzbares Recht, das konsequenterweise einen Anspruch auf Schaffung neuer integrativer Klassen enthielte, wollten die Karlsruher Richter nicht gewähren.
Während es damals ums Geld ging – integrativer Unterricht ist teuer –, steht im Kölner Fall der alltägliche Umgang von Nicht-Behinderte mit Behinderten zur Debatte. Denn das Kölner Oberlandesgericht (OLG) stützte sein Urteil nicht etwa auf einen Lärmpegel, wie er auch durch Kindergeschrei verursacht werden kann. Es räumte dem Nachbarn vielmehr das Recht ein, sich gegen das – nach Auffassung des Gerichts besonders störende – Geschrei von Behinderten zu wehren.
In der mündlichen Begründung formulierte der Vorsitzende Richter bemerkenswerte Sätze: Maßgebend sei „nicht so sehr die Lautstärke als vielmehr die Art der Geräusche. Diese weicht völlig ab von dem, was im üblichen nachbarschaftlichen Nebeneinander erlebt wird, ist insbesondere mit Kindergeschrei und anderem nicht zu vergleichen, und wirkt deshalb außerordentlich belastend."
Das Schlüsselwort ist „üblich". Das Nebeneinander von Behinderten und Nichtbe-hinderten wird damit logischerweise als „unüblich" bezeichnet, gewissermaßen als Ausnahmezustand, den der „Normale" nicht ohne weiteres hinzunehmen braucht. Damit bestärkt das Gericht Tendenzen, Behinderte außerhalb der Sicht- und Hörweite von Nichtbehinderten aufzubewahren – Tendenzen, die zum Beispiel beim Streit um die Errichtung von Pflegeheimen hervortreten.
Daß juristische Schritte gegen das „Unübliche" erfolgversprechend sind, zeigen etwa Urteile aus dem Reiserecht. Das Amtsgericht Flensburg hatte 1992 einer Familie die Minderung ihres Reisepreises um 350 Mark zugesprochen, weil sie sich im Speisesaal durch den Anblick von zehn schwerbehinderten Rollstuhlfahrern gestört gefühlt hatte. Ähnlich das Landgericht Frankfurt, das im Jahr 1980 befunden hatte: „Es ist nicht zu verkennen, daß eine Gruppe von Schwerstbehinderten eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann." Falls das Kölner Urteil in Karlsruhe überprüft wird, bekommt das Gericht Gelegenheit zur Klarstellung, was es mit dem neu eingeführten Behindertenschutz auf sich hat. Würde er ernstgenommen als ein Auftrag des Grundgesetzes, auch juristisch die Integration von Behinderten voranzubringen, dann wären Urteile wie das des Kölner OLG nur noch schwer zu begründen. Heftig waren die Reaktionen auf das Urteil.

Wolfgang Janisch (dpa)