Integration Behinderter

Zwischen Bildung und Therapie
Begleitung von Geschwistern Behinderter soll bundesweit vernetzt werden

(aus dem Kurier am Sonntag (LNOS) v. 13.07.1997)
Von Bernhard Komesker
L i l i e n t h a l. Vernetzung ist seit einigen Jahren das Zauberwort, wenn es darum geht, einen Arbeitsbereich für die Zukunft zu rüsten. Bundesweit vernetzt werden soll nun auch ein noch relativ junger Sektor der Bildungsarbeit, und zwar die Begleitung von Geschwistern behinderter Kinder. Dies ist das Ergebnis einer ersten Arbeitstagung, die kürzlich im Niels-Stensen-Haus in Worphausen zu Ende ging.
Das Tagungshaus zwischen Lilienthal und Worpswede bietet seit 15 Jahren eigene Seminare für "Geschwisterkinder" an - also für Jungen und Mädchen, die eine behinderte Schwester oder einen behinderten Bruder haben. Damit zählt die zuständige Ressortleiterin Marlies Winkelheide zu den erfahrensten Anbietern im Lande. Sie war es auch, die die ihr bekannten Multiplikatoren aus dem Bundesgebiet zum jüngsten Arbeitstreffen zusammengerufen hatte.
Bildungsstätten aus Franken, Oberbayern und Westfalen waren dabei ebenso vertreten wie Elternvereine und Selbsthilfegruppen aus Hamburg, Ratingen, München und Kaiserslautern. Hinzu kamen einige Mitarbeiter der Worphauser Gastgeber sowie der Münchner Familienforscher Professor Dr. Hartmut Kasten und die Bremer Behindertenpädagogik-Professorin Dr. Ursula Pixa-Kettner.
Als Thema des dreitägigen Erfahrungsaustauschs diente ein Satz, den praktisch alle schon einmal so oder ähnlich von einem Geschwisterkind gehört haben. Er hängt mit dessen ganz besonderer Lebenssituation zusammen und lautet schlicht: "lch bin doch auch noch da."
Auf die Fragen und Bedürfnisse ihrer Schützlinge, das zeigte sich in Worphausen, reagieren die Veranstalter mit unterschiedlichen Konzepten; in allen ist Gruppenerfahrung wichtig. Neben kompensatorischen Ansätzen gibt es solche, die für den Alltag stärken und/oder zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen sollen. Einig sind sich die Anbieter darin, daß sie sich zwar an der Grenze zwischen Bildungsarbeit und Therapie bewegen, keinesfalls jedoch Therapie betreiben wollen.
Denn, so Marlies Winkelheide: "Die Tatsache, einen behinderten Bruder zu haben, ist ja an sich kein Defizit, das eine Therapie erfordert." Gleichwohl müsse viel für die Qualifizierung des eigenen Personals getan werden. Bewährt haben sich altersgemischte, kontinuierlich arbeitende Teams, die außerhalb der Angebote Raum für die eigene Auseinandersetzung und Fortbildung haben.
Auf der Arbeitstagung gehörte zur Reflexion der Praxis jetzt auch die Frage nach zusätzlichen Angeboten, etwa für Mädchen oder Erwachsene sowie für trauernde Geschwister von behinderten Kindern. Welche Anforderungen birgt der Wandel der Familienstruktur, der Werte und Normen?
Vereinbart wurden regelmäßige Treffen sowie der Aufbau von gemeinsamen Literatur- und Material-Listen - offenbar frei von Konkurrenzdenken: Die Nachfrage nach Geschwistertagungen übersteigt das Angebot bei weitem - in Worphausen, wo einstweilen die Fäden zusammenlaufen, und auch andernorts.