Integration Behinderter

Behinderungen spielerisch meistern
Der Elternverein "Psychomotorische Entwicklungsförderung" konnte bereits vielen Kindern helfen

(aus dem Weser-Kurier v. 12.07.1997)
Von Katrin Güldenpfennig
R ö n n e b e c k. Ein großes Bild ziert den Aufenthaltsraum des Elternverein "Psychomotorische Entwicklungsförderung". Eine Schlange, ein Elefant, ein Affe und eine Schnecke sind auf dem Gemälde zu sehen. Auf einer Bank sitzt ein Mann. Er sagt zu den Tieren: "Der Gerechtigkeit halber stelle ich euch allen die gleiche Aufgabe: Klettert auf diesen Baum!" So ungerecht kann also Gerechtigkeit sein, vor allem für psychomotorisch gestörte Kinder.
Versucht ein Kleinkind, Saft in ein Glas zu füllen, so landet bei den ersten Versuchen die Hälfte auf dem Tisch. "Nach dem achten Mal hat ein Kind den Vorgang im Kopf gespeichert", erklärt die zweite Vorsitzende des 1990 gegründeten Elternvereins, Maren Maetze. Bei einem psychomotorisch gestörtem Kind ist das ganz anders: Bei ihm tritt der Erfolg erst nach 60 Versuchen ein. Das ist für das Kind frustrierend. Denn es sieht natürlich, daß andere viel schneller lernen. Irgendwann versucht das Kind gar nichts mehr: Das bringt ja doch nichts.
Das andere Extrem sind hyperaktive Kinder. Sie trauen sich einfach alles zu - und das kann sehr gefährlich werden. Die einzige Möglichkeit, psychomotorisch gestörten Kindern zu helfen, ist die Bewegungstherapie. In den Übungsstunden lernen die Kleinen, mit ihren Behinderungen umzugehen und daran zu arbeiten - al!es spielerisch verpackt. Einige Kinder haben beispielsweise Schwierigkeiten, ihr Gleichgewicht zu halten. In einer Übungsstunde muß folglich balancieren geübt werden. Das sieht so aus: Auf der Insel ist ein großer Schatz versteckt. Alle kleinen Piraten befinden sich auf einem Schiff und müssen jetzt über die Bretter klettern, um auf die Insel zu kommen. Ganz vorsichtig, damit keiner ins Wasser fällt.
"Mama, was soll ich denn dort lernen Das macht doch so viel Spaß", fragt ein vierjähriges Mädchen seine Mutter. Die Kleine hat gar nicht gemerkt, daß sie eine Stunde lang über Schwebebalken balancierte, über Rollbretter lief, an Ringen schaukelte und über eine Hängematte krabbelte. Und das mit allergrößten Gleichgewichtsstörungen. Darüber hinaus wird das Selbstbewußtsein der Kinder gestärkt. Sie wollen keine Übungsstunde verpassen: Dort bekommen sie das Gefühl vermittelt, daß die anderen ohne sie nichts anfangen können.
Die Arbeit des Elternvereins basiert jedoch nicht allein auf der Therapie: Öffentlichkeits- und Elternarbeit sind genauso wichtig. Mit den Eltern wird unter anderem überlegt, wie den Kindern im normalen Alltag geholfen werden kann. Das sieht beispielsweise so aus: Ein kleines Mädchen hatte in der Schule beim Diktat große Schwierigkeiten. Psychomotorisch gestörte Kinder können die Wichtigkeit akustischer Reize nicht voneinander trennen. Alles wird gleich stark wahrgenommen. Die Schritte auf dem Flur, das Geschrei auf dem Pausenhof, der Sitznachbar, der sich gerade die Nase putzt - und jetzt soll auch noch ein Diktat geschrieben werden. Das kleine Mädchen konzentriert sich, bringt jedoch kein Wort zu Papier. Eltern und Lehrerin sind ratlos, denn schreiben kann die Kleine.
Nach einiger Zeit stellten die Eltern fest, daß die Lehrerin beim Diktieren im Klassenzimmer auf und ab ging. Für das Mädchen war das zuviel: Mal kam der akustische Reiz von vorne, mal von hinten, dann auf einmal aus der Ecke. Beim nächsten Diktat blieb die Lehrerin vor dem Pult stehen und siehe da - das Mädchen schrieb eifrig mit.
Öffentlichkeitsarbeit bedeutet, Kontakte zu Schulen, Kindergärten und Ärzten aufzubauen, damit betroffenen Kindern so früh wie möglich geholfen werden kann. "Ein Arzt erzählte uns, daß im Prinzip jedes sechste Kind psychomotorisch gestört ist," sagt Maren Maetze. Inzwischen werden 61 Kinder vom Elternverein betreut. Der Mitarbeiterkreis setzt sich aus verschiedenen therapeutischen Kreisen zusammen.

Foto: Kono